Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes
Wiederaufnahme
„Verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt; sie schlägt dir selbst.“ - John Donne
Das Leben ist schön. Und Jedermanns Leben ist besonders schön. Seine Geschäfte laufen gut. Er ist unglaublich reich. Er besitzt das schönste Haus der Stadt, seine zahllosen Bediensteten erfüllen jeden seiner Wünsche, und um seine Kunstsammlung beneiden ihn die wichtigsten Museen der Welt. Er ist nie allein und ein großzügiger Gastgeber von legendären Festen. Und er ist verliebt. Er und die Buhlschaft scheinen bereit für die nächste Phase ihrer Beziehung, die zu etwas Dauerhaftem werden könnte. Doch genau in diesem Moment, „mitten drin im besten Leben“, am Höhepunkt des gesellschaftlichen Ereignisses des Jahres, erscheint der Tod. Er will Jedermann holen. Niemanden sonst. Nur ihn. Ganz allein.
Diese plötzliche Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit ist für Jedermann kaum zu fassen, geschweige denn zu verstehen oder zu akzeptieren. Die Reichtümer, die er angehäuft hat, sind ihm in diesem Moment keine Hilfe. Und das Wissen, dass der Tod auch andere holen wird – und früher oder später zu allen kommen wird –, ist ihm kein Trost. Zunächst sieht er das Erscheinen des Todes als ein Hindernis an, das es wie so vieles in seinem beruflichen und privaten Leben zu überwinden gilt: ein Problem, das sich mittels Verhandlungen, Charme, Beziehungen, gegebenenfalls durch die schlichte Weigerung, ein Nein zu akzeptieren, oder ganz schnöde mit Geld lösen lässt. Erst als diese Bemühungen gescheitert sind und alle, die gerade noch auf seine Kosten geschlemmt und Champagner getrunken haben, ihn im Stich lassen, beginnt Jedermann zu begreifen, dass sein Leben tatsächlich vorbei ist.
Darauf ist Jedermann nicht vorbereitet. Vielleicht zum allerersten Mal kann er sein Leben nicht aus einer materiellen Perspektive betrachten, und ihm gehen viele, zum Teil auch widersprüchliche Gedanken und Gefühle durch den Sinn. Dahinter lauern Fragen, wie sie sich vor ihm schon so viele andere Menschen am Ende ihres Lebens gestellt haben: Wie hätte ich das verhindern können? Habe ich auch Gutes bewirkt? Warum war ich so sehr auf das Hier und Jetzt fixiert? Warum habe ich so viele wichtige Dinge übersehen? Warum habe ich nicht anders gehandelt? Was bedeutet das alles? Und: Kann ich wirklich nichts tun, um Wiedergutmachung zu leisten?
Hugo von Hofmannsthal knüpft mit seinem Stück an mittelalterliche Moralitäten an, die schon viele Jahrhunderte alt waren, als er sie zur Hand nahm. Seine Version ist zwar verankert im christlichen Glauben, wie er selbst ihn praktizierte, doch in einem Essay, den er – kurz nach Fertigstellung des Stücks – 1912 schrieb, betonte Hofmannsthal, das Thema sei zeitlos und „nicht einmal mit dem christlichen Dogma unlöslich verbunden“. Auch wenn er ausdrücklich vom Tod eines reichen Mannes erzählte, ging es Hofmannsthal immer um die Allgemeingültigkeit des Stoffs.
Hofmannsthals Jedermann ist ein fester Bestandteil im Programm der Salzburger Festspiele seit ihrer Gründung im Jahr 1920. Neben dem nach wie vor aktuellen Thema ist ein weiterer wichtiger Grund für die anhaltende Beliebtheit die überaus charakteristische Sprache, die der Autor über mehrere Jahre hinweg entwickelt hat. Die Verse des Dramas bemühen sich bewusst um eine altertümliche Patina, haben aber gleichzeitig eine lebendige, vorwärtstreibende Energie. Die unregelmäßigen Versrhythmen und Reimschemata geben den Dialogen Halt und Kraft, ohne sie jemals vorhersehbar werden zu lassen. Es ist eine Sprache, die man genießen kann und die immer wieder überrascht.
Eine Aufführung des Jedermann auf dem Domplatz (oder bei Schlechtwetter im Großen Festspielhaus) ist mehr als ein gewöhnlicher Theaterabend: Man nimmt an einem Ritual teil, das seit mehr als einem Jahrhundert Bestand hat, und setzt sich mit Gedanken und Emotionen auseinander, die schon viele Generationen vor uns beschäftigt haben. Denn ob es uns gefällt oder nicht: Letztlich gehen sie uns alle an.
Die Inszenierung von Robert Carsen knüpft an diese Tradition an und erschafft eine lebendige, zeitgenössische Welt, deren opulente Details und ausladende Dimensionen Hofmannsthals Kritik an materialistischen Werten unterstreicht und seiner Forderung nach einer tiefen spirituellen Reflexion Nachdruck verleiht. Seine hochgelobte Interpretation mit Philipp Hochmair in der Titelrolle kehrt nun zum dritten Mal zurück.
David Tushingham (Übersetzung: Eva Reisinger)
Robert Carsen, Regie / Bühne / Licht
Luis F. Carvalho, Bühne / Kostüme
Giuseppe Di Iorio, Licht
Rebecca Howell, Choreografie
David Tushingham, Dramaturgie
Besetzung:
Dominik Dos-Reis, Tod
Philipp Hochmair, Jedermann
Daniela Ziegler, Jedermanns Mutter
Christoph Luser, Jedermanns guter Gesell / Teufel
Jannik Görger, Der Hausvogt
Susanne Wende, Der Koch
Sylvie Rohrer, Ein armer Nachbar / Werke
Arthur Klemt, Ein Schuldknecht
Nicole Beutler, Des Schuldknechts Weib
Roxane Duran, Buhlschaft
Lukas Vogelsang, Dicker Vetter
Daniel Lommatzsch, Dünner Vetter
Kristof Van Boven, Mammon
Juliette Larat, Glaube
Ensemble 013
Dauer: ca. 1 h 50 min, ohne Pause
Termine
Sa 18.7.2026, 21:00 | Ticket
Mo 20.7.2026, 21:00 | Ticket
Mi 22.7.2026, 21:00 | Ticketund weitere Termine
Di 28.7.2026, 18:00 | Ticket
Fr 31.7.2026, 21:00 | Ticket
So 2.8.2026, 21:00 | Ticket
Di 4.8.2026, 21:00 | Ticket
Fr 7.8.2026, 21:00 | Ticket
Mo 10.8.2026, 21:00 | Ticket
Fr 14.8.2026, 17:00 | Ticket
So 16.8.2026, 17:00 | Ticket
Mi 19.8.2026, 17:00 | Ticket
Do 20.8.2026, 21:00 | Ticket
Mo 24.8.2026, 17:00 | Ticket
Di 25.8.2026, 17:00 | Ticket
„Du bist dir nur des einen Triebs bewusst; O lerne nie den andern kennen!“
Seit dem 16. Jahrhundert gehört die Erzählung des Doktor Faust, der seine Seele dem Teufel verschreibt, zum Kernrepertoire der europäischen Literatur. In den frühneuzeitlichen Deutungen erscheint der Stoff als moraltheologische Belehrung – Faust wird zum warnenden Exempel menschlicher Hybris. Sein Pakt mit dem Teufel ist eine ausdrückliche Absage an Gott und die himmlischen Mächte, die – so heißt es im Volksbuch – „vom jhme gewiechen“ seien. Sein Weg führt ihn folgerichtig in Hölle und Verdammnis.
Am Ende des 18. Jahrhunderts erfährt der Stoff durch Johann Wolfgang von Goethe eine radikale Transformation. Seine Arbeit am Faust-Projekt umfasst einen Zeitraum von etwa 60 Jahren: Die dichterische Arbeit beginnt um 1772 und endet, immer wieder unterbrochen, im Jahr 1831. Das vollständige Werk wird wenige Monate nach seinem Tod 1832 veröffentlicht.
Goethe katapultiert den Faust-Stoff in die Höhe der Weltliteratur – in engste Nachbarschaft zu Homer, Shakespeare oder Dante –, semantisch überdeterminiert, ausufernd, unausdeutbar. Er entwirft einen Reflexionsraum, der den Blick weit ins 19. Jahrhundert bis in die Moderne hinein öffnet. Aus Faust, dem verdammten Ketzer der frühen Neuzeit, wird bei Goethe ein verzweifelt Suchender: „Allein ich will!“, lautet seine Parole. Mit seinem rastlos drängenden Trieb, der jede Grenze missachtet, wird Faust zum Prototyp des modernen Menschen.
Soweit die Ausgangssituation: Ein gewaltiger europäischer Weltentwurf wartet darauf, immer wieder neu ausbalanciert und für die Gegenwart interpretiert zu werden. Goethes Faust ist wie eine offene Stadt, in die viele Wege hineinführen. Das Stück ist lesbar als die äußere Erzählung eines Individuums, des Gelehrten Faust, der voller Ekel und Leere seine Existenz negiert und einen neuen Anfang sucht. Die berühmte „Zueignung“ beschreibt genau diese Situation: Ein Mensch blickt zurück und ruft noch einmal etwas herbei – „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, / Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt. / Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten?“
Fausts berühmtes Diktum der „zwei Seelen, ach, in meiner Brust“ öffnet den Blick ins Innere. Der Schauplatz wird gewechselt und das äußere Drama gerät zum Seelenpanorama, in dem die handelnden Personen zu widerstreitenden Kräften eines zerrissenen Bewusstseins werden – Personifikationen innerer Kräfte, die einen psychischen Innenraum bespielen. Die Bühne beschreibt so gesehen keinen realistischen Ort, sondern einen Zustand. Die Figuren sind Manifestationen innerer Anteile, die gegen- und miteinander ringen. Mephisto ist keine ausgelagerte Wesenheit, sondern eine Schattenfigur des Faust selbst: seine dunkle, verachtete, verdrängte Seite. Er ist der destruktive Pol, der Faust verführt und antreibt. Mit ihm macht sich Faust auf eine Initiationsreise durch die Welt, die ihn durch die Abgründe des eigenen Bewusstseins führt – durch Lust und Verantwortung, Schöpfung und Zerstörung. Der junge Faust ist jener Teil des Wesens, in dem das Leben pulsiert, der nach Erfahrung, Berührung, Gegenwart drängt – etwas, das der alte Faust in seiner monströsen Erkenntnisgier verloren hat. Gretchen ist dessen weiblicher Anteil, der Moral, Verletzlichkeit, Unschuld und Liebe verkörpert. Sie spiegelt ihm seine eigene Unzulänglichkeit und Leere, seinen Mangel an Empathie und Hingabe. In ihrem Blick erkennt er das, was er aus sich verbannt hat und nun, unerträglich nah, vor ihm steht. Darum muss er sie zerstören.
Goethe selbst bekannte sich zu seiner „nordischen Barbarey“, die jenseits der klassizistischen Humanität liegt. Die in Faust wirkenden Energien sind unauflöslich ineinander verkeilt und schleppen sich durch die wüste, entleerte Welt der Moderne – als „sehnsuchtsvolle Hungerleider nach dem Unerreichlichen“, wie es in Faust II heißt.
Besetzung:
Steven Scharf, Faust
Valery Tscheplanowa, Mephistopheles
Anna Drexler, Margarete
Johannes Nussbaum, Junger Faust
und weitere Schauspielerinnen und Schauspieler des Residenztheaters
Eine Koproduktion der Salzburger Festspiele mit dem Residenztheater München
In deutscher Sprache mit englischen Übertiteln
Termine
Sa 25.7.2026, 19:00 | Ticket
So 26.7.2026, 19:00 | Ticket
Di 28.7.2026, 19:00 | Ticketund weitere Termine
Fr 31.7.2026, 19:00 | Ticket
So 2.8.2026, 19:00 | Ticket
Mo 3.8.2026, 19:00 | Ticket
Mi 5.8.2026, 19:00 | Ticket
Do 6.8.2026, 19:00 | Ticket
Das Lautwerden des einen Kreuz-und-Quer-Gehenden zeit seines jeweiligen Innehaltens
Uraufführung
„Welch ein Glück in diesem deinem Leben, und was für ein Glück erst wird dich erwarten im nächsten!“
Wie erzählt man von der Welt, ohne sie zu erklären? Ohne sie besitzen zu wollen? Wie spricht man über das Ich, ohne es festzulegen? Wie klingt Erinnerung? Und was soll dieses Leben überhaupt?
Peter Handke hat die Welt stets neu vermessen – mit Sprache und im Widerstand gegen ihre Abnutzung. Auch in seinem neuen Text bleibt er diesem poetischen Forschen treu – vielleicht radikaler, vielleicht zarter denn je, jedoch nicht ohne jenen feinen Humor, jene Selbstironie, mit der er auch seinen eigenen Ernst nonchalant unterläuft. Alles „Schnee von gestern“? Und wenn?
Ein Mensch unterwegs, kein fest umrissener Charakter, sondern ein Kreuz-und-Quer-Gehender, einer, der sich mal tastend, mal springend durch innere wie äußere Landschaften bewegt. Eine Selbstbefragung vielleicht, eine Abschiedsmelodie möglicherweise, ein stilles Lachen, das Hintersinn suggeriert. „Oder auch nicht.“ Im Gehen trägt er zusammen, was ihm begegnet. Und aus diesen Splittern entsteht ein magisches Tableau des Weltbeobachtens, das sich dem großen Ganzen verweigert – und es gerade darin aus der Tiefe des Einzelnen, aus seiner rücksichtslosen Subjektivität heraus offenbart. „Oder auch nicht“ – eine sprachliche Wendung, mit der uns Handke immer wieder auf uns selbst und unsere eigene Wahrnehmung zurückwirft. Handke tanzt mit der Sprache, spielt mit sich und uns, fordert heraus, reiht Sprichwörter, Theatersätze, Nonsens-Sprüche, Assoziationen und Reflexionen aneinander, geht mit uns und sich ins Gericht, erlaubt sich Abschweifung, Albernheit, Staunen – und verliert sich mit voller Absicht: in einem Raum, der weder Anfang noch Ende kennt, sondern nur Bewegung. Bis der eine, der da unentwegt spricht, zurücktritt, aufbricht, verschwindet und ein anderer übernimmt: „Angeblich soll er vor einiger Zeit noch gesehen worden sein, als letzter Fahrgast hinten zusammengekauert im allerletzten Nachtbus.“
Peter Handke, 1942 in Kärnten geboren, wurde 2019 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Nicht erst seither wurde gestritten: um Fragen nach der Verantwortung von Literatur, nach dem Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit – Debatten, die in der mäandernden Suche von Handkes außerordentlichen, gleichsam poetischen wie provozierenden Texten immer schon angelegt waren. Sein umfangreiches Werk umfasst Romane, Theaterstücke, Erzählungen, Essays, Drehbücher, Übersetzungen und Gedichte. Das Theater revolutionierte er mit seinem ersten, inzwischen legendären Stück Publikumsbeschimpfung (1966) und weiteren Texten wie beispielsweise Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992), ein Stück, das gänzlich ohne jedes gesprochene Wort auskommt. Für das dramatische Epos Immer noch Sturm, das 2011 im Rahmen der Salzburger Festspiele uraufgeführt wurde, fand der Autor in dem Schauspieler Jens Harzer nicht nur einen begeisterten Leser, sondern einen Künstler, der Handkes Sprache kongenial auf die Bühne zaubert.
Schnee von gestern, Schnee von morgen wird auf ausdrücklichen Wunsch Peter Handkes in Salzburg – jener Stadt, mit der er eng verbunden ist – uraufgeführt. Regie führt der für seine feinsinnigen Inszenierungen bekannte, vielfach ausgezeichnete Schauspiel- und Opernregisseur Jossi Wieler, der bereits seine achte Produktion für die Salzburger Festspiele realisiert. Gemeinsam mit Jens Harzer und Marina Galic, beide Mitglieder des Berliner Ensembles, widmet er sich nun Handkes jüngstem Text, der vom Verlag explizit als „ein Stück für die Bühne“, „ein Lied ohne Kehrvers“ angekündigt wurde – ein Text also, der nicht nur gelesen, sondern unbedingt gespielt werden will. Ein musikalischer Text, ein Text über die theatrale Kraft des Erzählens selbst, über das Fragen und Ertragen und den Jubel im Moment des Verschwindens. „Welch ein Glück in diesem deinem Leben, und was für ein Glück erst wird dich erwarten im nächsten!“
Bewertungen & Berichte Schnee von gestern, Schnee von morgen
Schauspiel
Europa
Wajdi Mouawad (1968)
Nach dem Theaterstück Europa’s Pledge (Le Serment d’Europe)
In der Übersetzung von Jacek Poniedziałek
Gastspiel
„Die Reise nach Hause ist immer eine Reise, aber nie eine wirkliche Heimkehr.“
Schweigen – Verbrechen, über die man nicht spricht. Die Nachwirkungen von Traumata zeigen sich oft erst nach Generationen. Kriege, Völkermord und Massaker an der Zivilbevölkerung geschehen ohne Unterlass. Die Welt verstummt angesichts des nächsten, noch schrecklicheren Verbrechens – und vergisst es wieder. Das Leben geht weiter – selten gibt es Strafen, was immer wieder neue Mörder auf den Plan ruft.
In seiner Theaterarbeit beschäftigt sich Krzysztof Warlikowski mit Fragen von Schuld und Verantwortung und setzt moderne Konflikte in Beziehung zu antiken Tragödien. Ausgehend von einem Text des mit dem Europäischen Dramatiker·innen-Preis ausgezeichneten Wajdi Mouawad, mit dem Warlikowski schon oft zusammengearbeitet hat, weitet er seinen Blick auf vererbte Traumata. Hier erfasst uns alle die Dunkelheit: Ohne Ausnahme sind wir in traumatische Ereignisse verstrickt, sei es auf Seiten der Opfer oder der Täter. Selbst wenn wir nicht direkt an den dramatischen Ereignissen beteiligt waren, lastet die Schuld doch wie ein Fluch auf uns und hinterlässt ihre Spuren.
Jedes zeitgenössische Massaker ist in eine urzeitliche Ordnung des Tötens eingebunden, die bis in mythische Zeiten zurückreicht. Es verweist auf die Gewalttaten der Götter – Akte der Vergewaltigung, aus dem Verlangen nach dem menschlichen Körper gespeist –, wovon diese Mythen erzählen. Stellen Sie sich nun das alte Europa vor – mal selbst im Blut watend, mal aus der Ferne beobachtend, wie weltweit Massaker geschehen. Können Sie sich dabei wirklich unschuldig fühlen? Und vergessen Sie nicht: Sie sind für Ihre Gefühle selbst verantwortlich.
Der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski ist bekannt für Inszenierungen, in denen er historisches Material mit zeitgenössischen Themen verwebt. In den vergangenen Jahren hat er bei den Salzburger Festspielen mehrfach als Opernregisseur für Aufsehen gesorgt. Jetzt gibt er sein Salzburger Debüt als Theaterregisseur und bringt Mouawads jüngstes Stück, Europa’s Pledge, mit dem Ensemble des Warschauer Nowy Teatr auf die Bühne, dessen Künstlerischer Leiter er seit 2008 ist.
Der 1968 im Libanon geborene Autor, Regisseur und Schauspieler Wajdi Mouawad leitet seit 2016 das Théâtre national La Colline in Paris. Er gilt als einer der weltweit renommiertesten Dramatiker. Seine Stücke beschäftigen sich mit dem kollektiven Erbe von Gewalt und Krieg, mit der Verdrängung von Geschichte, traumatischen Erfahrungen und der Suche nach Identität, oft vor dem Hintergrund seiner eigenen Biografie und der großen Mythen. „Meine Beziehung zur Tragödie reicht weit zurück“, sagt er. „Mein Wunsch, Theater zu machen, erwuchs aus der Tragödie, und die meisten meiner Stücke sind nach der Lektüre antiker Tragödien entstanden. Wollte man sich die großen Autoren – Shakespeare, Tschechow, Beckett – als Gärten vorstellen, so wäre Sophokles der Garten, in dem ich mich am wohlsten fühle. Ich kehre immer wieder zu ihm zurück. Meiner Meinung nach behandelt mein Stück sehr grundlegende Themen: die Beziehung zwischen extremer Gewalt und der Möglichkeit des Trostes; die Vorstellung, dass Worte ein Ort des Konflikts, aber auch der Heilung und Erkenntnis sein können.“
Ein achtjähriges Mädchen muss hilflos mitansehen, wie eine Bevölkerungsgruppe massakriert wird. Dieses Verbrechen wurde von ihrem eigenen Volk begangen, und ohne es zu wissen oder es zu verstehen, trägt sie eine Mitschuld. 75 Jahre später reißt eine Untersuchung die Wunden der Vergangenheit wieder auf. Zeug·innen werden gesucht, das Schweigen wird hinterfragt. Jetzt muss sie reden. Aber wie stellt man sich dem, was vor langer Zeit begraben wurde? Wie begegnet man einer Sache, die nie benannt wurde? Europa’s Pledge befasst sich mit der Erinnerung an ein Verbrechen, mit der Last des Schweigens und mit der Frage, wie Traumata über Generationen hinweg weitergegeben werden. Mit seinem neuen Stück, das im Sommer 2025 beim Epidaurus-Festival Premiere hatte, setzt Wajdi Mouawad seine Auseinandersetzung mit vererbter Gewalt und dem Theater als Ort der Aufarbeitung und Heilung fort.
(Übersetzung: Eva Reisinger)
Krzysztof Warlikowski, Regie
Małgorzata Szczęśniak, Bühne / Kostüme
Felice Ross, Licht
Piotr Gruszczyński, Anna Lewandowska, Carolin Losch, Dramaturgie
Paweł Mykietyn, Musik
Kamil Polak, Video
Besetzung:
Claude Bardouil
Andrzej Chyra
Magdalena Cielecka
Bartosz Gelner
Małgorzata Hajewska-Krzysztofik
Maja Ostaszewska
Magdalena Popławska
Eine Produktion des Nowy Teatr, Warschau
In polnischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln
Termine
Mo 10.8.2026, 19:00 | Ticket
Mi 12.8.2026, 19:00 | Ticket
Do 13.8.2026, 19:00 | Ticket
Komödie in fünf Akten
Aus dem Französischen von Frank-Patrick Steckel
Neuinszenierung
„Mich soll man meinen, mich; uns beide trennen Welten; / Ich plane nicht, als Freund der Gattung Mensch zu gelten.“
Molières Komödie Der Menschenfeind, die im Jahr 1666 wie die meisten seiner Stücke mit dem Autor in der Titelrolle uraufgeführt wurde, ist eine funkelnde Satire auf gesellschaftliche Heuchelei, die bis heute nichts an Aktualität verloren hat. Im Zentrum steht der unversöhnliche Konflikt zwischen kompromisslosem Idealismus und einer Welt, in der Selbstinszenierung und Lüge als missverstandene Höflichkeit zur Regel geworden sind.
Alceste, der „Menschenfeind“, ist ein Mann radikaler Ehrlichkeit. Er verachtet die Lügen, Intrigen, Masken und Spiele, die in der höfischen Welt zum Alltag gehören und den Ruf eines Menschen stärker prägen als seine realen Taten. Konsequent und unnachgiebig vertritt er seine Auffassung, auch wenn sie ihn zum Außenseiter in eben jener Gesellschaft macht. Alceste bewegt sich damit zwischen dem Pol des tragischen Helden, der an seinen Idealen zu zerbrechen droht, und dem eines lächerlichen Clowns, der nicht gewillt ist, auch nur einen Fußbreit auf seine Mitmenschen zuzugehen. Ihm gegenüber steht Célimène, eine junge Witwe, die intelligent, witzig und charmant eine Meisterin der Konversation ist und sich lustvoll auf das gesellschaftliche Spiel einlässt. Ihr Salon bildet den Mittelpunkt der Handlung – ein Ort der Intrigen, des Klatsches und der doppelbödigen Kommunikation. Célimène versteht es, Verehrer gegeneinander auszuspielen, ihre Stellung zu sichern und soziale Netzwerke zu nutzen.
Trotz all seiner moralischen Ansprüche liebt Alceste diese Célimène. Und so wird diese Liebe zum Ausdruck seines inneren Dilemmas: Er begehrt eine Frau, die alles verkörpert, was er verachtet. Sein Versuch, sie zu einem Leben im Einklang mit seiner Wahrheit zu bekehren, ist zum Scheitern verurteilt. Am Ende bleibt ihm nur der Rückzug in die Einsamkeit – eine radikale Konsequenz in einer Welt, die seine Prinzipien nicht teilt. Molière verortet diesen – auch sein Leben prägenden – Konflikt im Mikrokosmos eines höfischen Salons, der als Modell für eine Gesellschaft dient, in der der Schein wichtiger ist als das Sein. In dieser Welt sind Lügen oft funktionaler als Wahrheiten, und diplomatische Höflichkeit ist die Voraussetzung für das Zusammenleben. Gleichzeitig stellt er mit Alceste dieser Welt keine Figur gegenüber, deren Handeln und Moral als nachahmenswert erscheint – zu sehr kreist er um sich selbst und ist nicht fähig, eine gewisse Großzügigkeit oder Menschlichkeit walten zu lassen. Übrig bleibt ein mehr oder weniger leeres Ich.
Der Menschenfeind stellt damit grundsätzliche Fragen: Ist radikale Ehrlichkeit lebbar und überhaupt wünschenswert – oder eher ein theoretisches, destruktives Konstrukt? Wie viele Kompromisse sind nötig, um in einer Gesellschaft zu bestehen?
Trotz existenzieller Tiefe ist Der Menschenfeind eine Komödie. Das Tragische schlägt immer wieder ins Komische um, wenn etwa Alceste in seiner Rechthaberei der Eifersucht verfällt oder in Selbstgerechtigkeit versinkt – und den Außenblick auf sich selbst gänzlich verliert. Molière gelingt zudem das Kunststück, philosophische Reflexionen mit unterhaltsamen Szenen zu verbinden. Er macht uns lachen durch Überzeichnung, durch Entlarvung von Idealismus in einer fehlerhaften Welt.
Ursprünglich für die höfische Gesellschaft Ludwigs XIV. geschrieben, bleibt Der Menschenfeind bis heute relevant. Themen wie gesellschaftliche Anpassung, die Masken des Alltags, der Wunsch nach Authentizität und die Angst vor Ausgrenzung sind universell. In Zeiten von Social Media, Selbstoptimierung, Lüge und öffentlicher Inszenierung hat Molières Stück eine verblüffende Aktualität.
Die Regisseurin Jette Steckel – bekannt für ihre bildstarken und emotional dichten Inszenierungen – bringt Molières Stück mit zeitgenössischem Blick auf die Bühne. Steckel, vielfach ausgezeichnet (unter anderem mit dem Theaterpreis Hamburg – Rolf Mares, einer Einladung zum Berliner Theatertreffen und dem Theaterpreis Der Faust), ist dem Thalia Theater bereits lange verbunden und wird mit dem dortigen Ensemble die Reise durch den Molière’schen Kosmos unternehmen.
„Ich beschreibe hier den Weg, ich sage aber nicht, wohin er führt.“
Die Wege des Geldes sind unergründlich. Für manche führen sie zielstrebig bergauf, für andere erweisen sie sich als Sackgasse oder als Pfad in Richtung Prekariat. Alternative Routen existieren anscheinend nicht: Geld regiert die Welt und uns und unser Leben und deshalb bleibt ihm Elfriede Jelinek als Chronistin und Kassandra hartnäckig und folgerichtig auf den Fersen – und manchmal ist sie ihm auch ein paar entscheidende Schritte voraus.
Jelineks jüngstes Drama Unter Tieren holt weit aus und zielt dabei treffgenau in die Untiefen unserer verlogenen und ideell ausgehöhlten Gesellschaftswelt. Von der Bibel bis zu René Benko wird nichts ausgelassen: Es geht um unstillbare Raffgier, um phrasendreschende Politiker und Wirtschaftsbosse, um geheuchelte Systemkritik und um Begriffe wie soziale Gerechtigkeit oder Chancengleichheit, die mittlerweile nur noch Worthülsen zu sein scheinen. Es geht um menschliche Käuflichkeit und um unverschämte, skrupellose Korruption. Und natürlich um eine scheinbar nicht kleinzukriegende Rüstungsindustrie, um Kriege, um Geld verschlingende, mörderische Kriege.
Wir leben in einer trotz ihrer Dysfunktionalität erstaunlich resilienten Wirtschafts- und Finanzwelt, die immer mehr auf den Hund kommt. Vielleicht ist das der Grund, weshalb Elfriede Jelinek die unendliche Geschichte des Mammons aus der Sicht von Tieren erzählt. Immer verständnisloser, dafür mit wachsendem Sarkasmus quieken, muhen, gurren und brummen hier Bären, Kühe, Schweine, Tauben, das Lamm Gottes oder auch der „Für und Widder“ und erzählen uns Menschen von „Notaren, die nichts notieren, Wirtschaftsprüfern, die nichts prüfen, Anwälten, die nicht walten, Wandelanleihen, die nicht wandeln, und Zinsen für laufende Kredite, die nicht rechtzeitig davongelaufen sind“.
Unter Tieren ist ein Stück darüber, wie wir konsequent an unserem selbstverschuldeten Unglück arbeiten. Wir weigern uns, unsere Lektion zu lernen und rasen wider besseres Wissen sehenden Auges in die Apokalypse des Kapitalismus. Denn klar ist in Unter Tieren: Die Welt ist aus den Fugen, und der Finanzmarkt wird es nicht richten.
Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die im Jahr 2026 ihren 80. Geburtstag begeht, beweist mit diesem Stück erneut, dass sie die bedeutendste deutschsprachige Dramatikerin ist. Ihre künstlerische und politische Radikalität hat die Theaterlandschaft für immer revolutioniert. Es gibt nur wenige Regisseur·innen, mit denen sie so kontinuierlich und erfolgreich gearbeitet hat wie mit Nicolas Stemann – und so zeichnet dieser nun auch für die Uraufführung von Unter Tieren verantwortlich.
Thomas Jonigk
Nicolas Stemann, Regie
Katrin Nottrodt, Bühne
Marysol del Castillo, Kostüme
Thomas Kürstner, Sebastian Vogel, Musik
Bernd Purkrabek, Licht
Benjamin von Blomberg, Sarah Lorenz, Dramaturgie
Claudia Lehmann, Konrad Hempel, Live-Video
Besetzung:
Mavie Hörbiger
Caroline Peters
Sebastian Rudolph
Thiemo Strutzenberger
Barbara Petritsch
Azaria Dowuona-Hammond
und andere
Eine Koproduktion der Salzburger Festspiele mit der BURG
In deutscher Sprache
Termine
So 16.8.2026, 19:00 | Ticket
Di 18.8.2026, 19:00 | Ticket
Mi 19.8.2026, 19:00 | Ticketund weitere Termine
Fr 21.8.2026, 19:00 | Ticket
Sa 22.8.2026, 19:00 | Ticket
Mo 24.8.2026, 19:00 | Ticket
Sie war also nichts geworden, konnte auch nichts mehr werden, das hatte man ihr nicht einmal vorauszusagen brauchen. Schon erzählte sie von „meiner Zeit damals“, obwohl sie noch nicht einmal dreißig Jahre alt war. Bis jetzt hatte sie nichts „angenommen“, nun wurden die Lebensumstände so kümmerlich, daß sie erstmals vernünftig sein mußte. Sie nahm Verstand an, ohne etwas zu verstehen. Peter Handke, Wunschloses Unglück
Bewertungen & Berichte Peter Handke · WUNSCHLOSES UNGLÜCK
Szenische Lesung
INGEBORG BACHMANN. WER?
Ingeborg Bachmann
Gedichte, Prosa, Briefe — eine szenische Lesung
Manchmal werde ich gefragt, wie ich, auf dem Land großgeworden, zur Literatur gefunden hätte. – Genau weiß ich es nicht zu sagen; ich weiß nur, daß ich in dem Alter, in dem man Grimms Märchen liest, zu schreiben anfing, daß ich gern am Bahndamm lag und meine Gedanken auf Reisen schickte, in fremde Länder und an das unbekannte Meer, das irgendwo mit dem Himmel den Erdkreis schließt. Immer waren es Meere, Sand und Schiffe, von denen ich träumte, aber dann kam der Krieg und schob vor die traumverhangene, phantastische Welt die wirkliche, in der man nicht zu träumen, sondern sich zu entscheiden hat. Ingeborg Bachmann, Biographisches
Claus Peymann, Jutta Ferbers, Hermann Beil, Textzusammenstellung
Jutta Ferbers, Leitung
Besetzung:
Anna Drexler, Mavie Hörbiger, Sophie von Kessel, Sylvie Rohrer, Valery Tscheplanowa, Christoph Luser
Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh‘ ich wieder aus.
Wilhelm Müller, Die Winterreise (vertont von Franz Schubert)
Unser Herz schmilzt keiner, unsere heißen Tränen durchdringen nicht Eis, nicht Schnee, bis wir die Erde sehen und bis die Erde uns sieht, bis sie uns trägt, bis sie uns erträgt. Unsere Tränen wischen wir uns selber weg. Unsere Bilder fließen dahin und sind fort. Elfriede Jelinek, Winterreise